Die Wolke by Gudrun Pausewang
Autor:Gudrun Pausewang
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Tags: Verstrahlung, Störfall, Leukämie, Atomunfall, Radioaktivität, AKW, Kernkraft, Krebs, Fallout, Jugend
Herausgeber: Ravensburger
veröffentlicht: 1987-03-13T23:00:00+00:00
Nach dem Frühstück kam Helga wieder. Sie hatte die Nacht in einem Dorfgasthof verbracht.
»Du wirst nicht viel geschlafen haben«, sagte sie. »Ich habe auch eine schlimme Nacht hinter mir.«
Sie zögerte. Sie sah sich um.
»Unglaubliche Zustände sind das hier«, sagte sie. »Und das in der reichen Bundesrepublik.«
»Sie sind nicht auf dem laufenden!« rief ihr ein Vater zu, der am übernächsten Bett sein Kind versorgte. »Wir sind jetzt ein Entwicklungsland!«
Helga antwortete nicht.
»Warum fragst du nicht nach Uli?« sagte Janna-Berta. »Er steht bestimmt nicht in der Suchkartei. In keiner Kartei und in keiner Liste.«
»Vielleicht hab ich Angst vor der Antwort«, sagte Helga.
Janna-Berta sah Helga an. Sehr aufrecht saà sie da, ein Muster an Selbstbeherrschung.
»Nie die Haltung verlieren!« hörte Janna-Berta Opa Hans-Georg sagen. Er mochte es nicht, wenn man in Tränen ausbrach. Aber Vati war nicht nach Opa Hans-Georgs Vorbild geraten. Sie hatte ihn weinen sehen. Zum Beispiel damals, als Uli schwerkrank in der Klinik gelegen hatte und der Arzt den Eltern nicht viel Hoffnung geben konnte. Oder einmal nach Tschernobyl, als Vati und Mutti sich wochenlang so viel Mühe mit der Vorbereitung einer Veranstaltung gegeben hatten: Sie hatten ein Forum geplant, mit Vertretern aller Parteien, die den Bürgern zum Thema WIE SICHER SIND UNSERE ATOMREAKTOREN? Rede und Antwort stehen sollten. Im letzten Augenblick hatten alle Politiker bis auf einen abgesagt. Da hatte Vati die Nerven verloren. Mutti war's gewesen, die die Veranstaltung doch noch rettete. Nachdem sie vom leeren Podium herunter kommentarlos die Absagebriefe der Politiker verlesen hatte, lieà sie die Bürger reden. Janna-Berta hatte auf der Treppe zum Podium gesessen und zugeschaut. Sie hatte nicht viel von dem verstanden, was die Leute zu sagen hatten, aber es war spannend gewesen, wie erregt, wie ängstlich, wie zornig sie gesprochen hatten. Und der ganze Saal war voll von beiÃendem Zigarettenqualm gewesen.
»Er war mit mir zusammen bis zuletzt«, sagte Janna-Berta. »Wir waren nicht mit nach Schweinfurt gefahren. Von Schlitz sind wir auf den Rädern geflüchtet. Er ist tot. Von einem Auto überfahren.«
Helga stand auf, drehte sich um und ging hinaus. Janna-Berta sah ihr durchs Fenster nach. Helga überquerte den Vorplatz und verschwand zwischen den Häusern.
Erst nach einer guten Stunde kehrte sie zu Janna-Berta zurück.
»Entschuldige«, sagte sie.
»Hier weint jeder, wenn ihm danach ist«, sagte Janna-Berta.
»Ich kann das nicht«, sagte Helga.
Sie hatte mit dem Arzt gesprochen. Er hatte ihr noch nicht erlaubt, Janna-Berta mitzunehmen.
»Ich werde dafür sorgen, daà du in eine Hamburger Klinik kommst«, sagte sie. »Dort ist zwar auch Personal für die Katastrophengebiete abgezogen worden, aber trotzdem wird's dir dort bessergehen. Du wirst in einem Zweibettzimmer liegen â«
»Ich bleibe hier«, sagte Janna-Berta, ohne zu überlegen.
Helga hob die Schultern. »Wie du willst«, sagte sie. »Ich werde dich nicht zwingen. Du bist alt genug, um zu wissen, was du tust. Aber überleg dir's gut.«
Beim Abschied wurde Helga lebhaft. Sie redete Janna-Berta zu, eine Mütze aufzusetzen.
»Jedenfalls wenn du dann drauÃen bist«, sagte sie. »Oder willst du die Leute absichtlich schockieren?«
»Ich hab nichts zu verheimlichen«, sagte Janna-Berta. »Ich bin kahl. So ist es. Damit muà ich leben.«
Dann beschwor Helga Janna-Berta,
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